Plädoyer für die alternde Gesellschaft
Vortrag in der Kaiserpfalz: Bremens Altbürgermeister Henning Scherf setzt auf die Fähigkeiten der Senioren
Von Oliver Stade
Goslar. Er geht tatsächlich durch die Reihen, um jedem der 300 Besucher die Hand zu schütteln. Manchen umarmt er, als kenne er ihn seit 30 Jahren. "Eine Begrüßung der nicht alltäglichen Art" nennt Torsten Janßen vom Allgemeinen Arbeitgeberverband Harz die herzliche Weise, mit der sich Bremens Altbürgermeister Henning Schwerf Freitagabend in der Kaiserpfalz vorgestellt hat.
Scherf (75) kennt vermutlich tatsächlich den einen oder anderen. Mehrere Male schon war er im Harz, um über sein Leib- und Magenthema zu sprechen - die alternde Gesellschaft und vor allem über die Chancen, die sich bieten, wenn die Erfahrungen der Senioren im Arbeitsleben, bei Stiftungen oder beim Zusammenleben mehrerer Generationen genutzt werden.
Scherf spricht frei, auf die Bühne in Goslar geht er nicht. Mitunter erscheint er wie ein Prediger, der seinen Zuhörern bei der Jahresveranstaltung des Arbeitgeberverbandes ins Gewissen redet.
Janßen, der zuvor über die gute Arbeitsmarktentwicklung gesprochen hat und die Rente mit 63 kritisiert, spricht er direkt an: "Dieses Klagen über die 63er ist ein Ritual. Wichtig ist, Arbeitsplätze zu schaffen, die für Alter erreichbar sind, die altersgerecht sind."
Niemand wolle jemanden in dem Alter als Dachdecker auf ein Dach schicken. "Aber er kann vielleicht in der Buchhaltung arbeiten oder Akquisitionsgespräche führen", sagt Scherf. Er fordert "intelligente Lösungen, wie Arbeitgeber Mitarbeiter länger im Unternehmen halten".
Sozialdemokrat Scherf redet eindringlich, und natürlich sieht er überall Chancen. Frank Schirrmacher, der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen, der vor einem Krieg der Generationen warne, habe Angst. "Jammerköppe" nennt Scherf die Harzer, die über das Fördergefälle lamentierten, anstatt sich zu freuen, dass der wiedervereinigte Harz mitten in Deutschland liege und voller Möglichkeiten stecke.
Ob all die Alten die Lücke der fehlenden Jungen schließen können? Wie sich eine Gesellschaft verändern müsse, die sich überwiegend aus über 60-jährigen zusammensetzt? Darüber sagt Scherf wenig. Aber das eine Gesellschaft einen gesunden Mix braucht, weiß er auch. Nicht alle Alten sollten nach Goslar kommen, "das wünsche ich euch nicht", sagt er rückblickend auf die Rede von Goslars Oberbürgermeister Oliver Junk.
Der hatte zuvor treffend beschrieben, unter welchem Bevölkerungsschwund die Region leidet und erklärt, es sei sehr schwierig, gleichsam mir nichts, dir nichts neue Arbeitsplätze zu schaffen. Stattdessen müsse eine Stadt wie Goslar sich als Wohnstandort für Singles, für Familien und alte Menschen präsentieren. Das könne Arbeitsplätze nach sich ziehen.
Scherf will die Alten zurück in die Gesellschaft holen. Diese Botschaft vermittelt er mit einem geradezu ansteckenden Optimismus und großer Freude. Als er am Ende seines Vortrags ankommt und niemand eine Frage stellt, fragt er, wo sein alter Freund der Oberbürgermeister sei. Da steht Ottmar Hesse auf, sagt, wie er sich in der Bürgerstiftung engagiere, reißt einen Witz über die SPD und wird von Scherf herzlich umarmt.